Wenn man anfängt, Japanisch zu lernen, muss man an vielen Fronten kämpfen:
Einen Grundwortschatz gilt es aufzubauen, Hiragana und Katakana müssen geübt werden und die Grammatik lernt sich auch nicht von selber.
Verständlich, dass man das Mammutprojekt „Kanji“ daher lieber auf die lange Bank schiebt. Sprechen lernen kann man ja auch ohne die Schrift, richtig?
Sicherlich, man kann.
Aber im Japanischen ist Schrift und Sprache enger miteinander verzahnt, als im Deutschen.
Wo wir eine Abkürzung vermutet hätten, treten wir ins Leere.
Lesen will ich ja gar nicht! Warum also Kanji?
Gibt es im Deutschen Informationen, die nur im Schriftlichen vorhanden sind und beim Übergang zum Mündlichen verloren gehen?
Nunja, ein paar gibt es da schon: Man denke zum Beispiel an „wieder“ und „wider“, die sich von der Aussprache her nicht unterscheiden, aber ihrer Bedeutung nach grundverschiedene Konzepte darstellen (wieder: noch einmal; wider: gegen) .
Auch zeigen uns die Großbuchstaben in einem Text, bei welchem Wort es sich um ein Nomen oder einen Namen handelt, wir gewinnen also Hinweise über ihre grammatikalische Funktion.
Bis auf diese (und ein paar weitere) Ausnahmen ist aber die Schrift im Deutschen ein relativ exaktes Abbild von dem, was wir mit unserer Stimme produzieren.
Anders ist es im Japanischen: Zahllose Kanji haben ein und dieselbe Lesung, werden also bei der Projektion vom Text zum Vorgelesenen hin ununterscheidbar. Sie sind deshalb bedeutend mehr, als nur „zu Papier gebrachte Laute“: Sie stellen eine zugrunde liegende Struktur der japanischen Sprache dar – fast wie eine Menge dreidimensionaler Objekte, auf die Licht fällt und an der Wand nun zu einem einzigen, zweidimensionalen Schatten werden. Denkt euch zum Beispiel einen Würfel, der von der Seite beleuchtet wird – sein Schatten hat die Gestalt eines Vierecks. Wenn wir nun anstatt des Würfels einen Zylinder nehmen, erhalten wir das selbe Resultat: auch er wird nun zu einer viereckigen Fläche. Über das dreidimensionale Ding können wir jetzt kaum noch Aussagen machen. Ebenso verhält es sich, wenn wir die japanische Silbe „ki“ hören. Steckt dahinter das Kanji 木, oder 気, oder 機…? Wir können es nicht mehr sagen.
Vokabeln für lau
Aber Theorie mal beseite – ich will euch ja davon überzeugen, dass Kanji auf längerfristige Sicht beim Japanisch Lernen helfen, anstatt nur aufzuhalten.
Und hier habe ich jetzt auch ein Beispiel dafür 🙂
Stellt euch vor, ihr lernt die folgenden Wörter:
– いじょう (mehr als und gleichviel)
– いか (weniger als und gleichviel)
– いがい (außerhalb von)
– いない (innerhalb von)
Klingen die nicht alle verdammt ähnlich?
Ich persönlich hatte damals wirklich meine Probleme, sie im Kopf zu behalten.
Jetzt kommt ein bisschen Kanji-Magic:
Vielleicht wisst ihr, dass „じょうず“ so viel bedeutet wie „geschickt“, „kundig“ oder auch „gut“ im Hinblick auf eine Fertigkeit. Ein sehr bekanntes Wort!
Die Kanji dafür sind leicht zu verstehen:
上手 (じょうず)
Es ist das Kanji für „oben/darüber“ neben dem Kanji für „Hand“.
Jetzt wird uns klar, dass man 上 auch „じょう“ lesen kann. Lasst uns auch einen Blick auf die Kanji Schreibweise von „いじょう“ werfen:
以上 (いじょう)
Siehe da – plötzlich ergibt alles Sinn. Besonders, wenn wir uns die Kanji der anderen Wörter ansehen:
以下 (いか)
以内 (いない)
以外 (いがい)
Wer das JLPT N5 Wort „外国人“ (がいこくじん) kennt, und auch die Bedeutung von „外“ (そと) -nämlich außen, außerhalb – im Kopf hat, der wird keine Probleme mehr mit „いがい“
haben. Es ist nun klar, dass es „außerhalb von“ bedeuten muss.
Schon haben wir zwei Vokabeln fast ohne Aufwand gelernt!
Und das alles nur mit Hilfe von sehr grundlegenden Kanji.
Ich habe es schon mal geschrieben: Bei Lernen von Kanji ist die Wiederholung das A und O, der Teig im Kuchen, der Fisch in der Sushi Rolle – sie ist wichtig.
Schnell reinpauken könnt ihr vergessen, wenn es euch um langfristige Erfolge geht.
Je früher ihr euch mit den Zeichen konfrontiert, desto früher werdet ihr mit ihnen vertraut.
Einfach weg mit dem Käse?
Oft denken sich frustrierte Anfänger (ich war damals keine Ausnahme) ab einem gewissen Punkt:
„Warum können die Japaner nicht einfach auf Kanji verzichten?
Hiragana und Katakana tun‘s doch auch!“
Klar: Kanji sind ästhetisch und ein großer Goldbarren im Schatzhaus der japanischen Kultur, aber reicht das wirklich aus, um die zahllosen Lernstunden zu rechtfertigen?
Kann man die Dinger nicht einfach ins Museum hängen oder in irgendwelche Kunstbücher verbannen?
Kurzum: haben Kanji neben ihrem schöngeistigen Charakter auch einen praktischen Nutzen?
Jeder, der häufiger Texte in reinem Hiragana ließt, kennt die Antwort.
Definitiv!
Ohne Kanji ist es mühsam und langwierig, japanische Texte zu lesen.
Dafür gibt es auch eine einleuchtende Erklärung, die ich einmal von einem Sprachwissenschaftler gehört habe.
Er argumentiert, dass wir einen Text vor allen Dingen flüssig lesen können, weil sich die darin enthaltenen Worte – optisch, als Bild – sehr voneinander unterscheiden.
Wir lesen also nicht wirklich Buchstabe für Buchstabe, sondern sehen eher die Gestalt des Wortes als ganzes, scannen es grob und erhalten dadurch schnell unser Ergebnis.
Wie viele Möglichkeiten gibt es, zum Beispiel, um ein Wort aus vier Buchstaben mit unserem lateinischen Alphabet aufzubauen?
Nun, das sind ungefär:
26 x 26 x 26 x 26
also etwa 450 000 Möglichkeiten.
Wie viele gibt es für ein japanisches Wort, das mit vier Romaji Buchstaben geschrieben wird?
Das sind, ganz grob überschlagen
(40 x 40) + (40 x 6 x 6) + (6 x 40 x 6) + (6 x 6 x 40) =
1600 + (3 x 1440)
also etwa 6000 Möglichkeiten.
Um das ganz exakt auszurechnen, wäre viel Aufwand nötig, und das Ergebnis interessiert auch gar nicht so sehr.
Wichtig ist der massive Unterschied in der Größenordnung!
Wir können nun also verstehen, dass die Worte in einem Hiragana Text für unser Auge zu wenig definiert und charakteristisch aussehen. Die Tatsache, dass zu weiten Teilen auf Leerzeichen verzichtet wird, macht es nicht gerade besser.
Kurz und gut: Es ist verlockend, um Kanji erstmal einen Bogen zu machen. Lieber etwas schneller flüssig Sprechen lernen – so denken viele -, als sich in einer halben Ewigkeit das Sprechen plus Kanji beizubringen – einen Muttersprachler findet man ja immer, der einem vorließt, und wer weiß, wann wir mit unserer Hightech-Smartphone-Brille jeden Text in Echtzeit mit Furigana lesen können.
Trotzdem: was vielleicht erstmal wie eine Abkürzung scheint, ist eigentlich ein Umweg, und der scheinbar lange Weg führt schneller zum Ziel, als gedacht.
Geduld ist gefragt, und Ausdauer.
Und wenn ihr zum ersten Mal ganz lässig die Kanji auf irgendeinem T-Shirt lesen könnt, ist das ein unvergleichliches Gefühl. Dafür lohnt sich der Aufwand!
Hallo Alex,
Schöner Bericht. 🙂
Viele Grüße aus Tokio,
Tessa
Hey Tessa, schön dich hier zu sehen 😉
Danke für dein Lob und viele Grüße aus dem kalten Deutschland 🙂