Von der liebenden Beziehung der Japaner zu ihrer Nahrung

Ich persönlich bin kein großer Gourmet. Ich esse zwar gerne und kann mich an
einer leckeren Speise erfreuen, denke aber außerhalb der Mahlzeiten selten
an die Nahrungsaufnahme und kann mich auch nicht wirklich daran erinnern,
was ich beispielsweise gestern gegessen habe.
Wie groß ist der Kontrast hier zu allen meinen japanischen Bekannten!
Es ist ganz offensichtlich, dass das Theme „Essen“ dort drüben einen
anderen Stellenwert einnimmt, als hierzulande.
Nami ist ein typisches Beispiel: ohne Unterlass sucht sie nach neuen Rezepten
oder kundschaftet aus, wo es in der Stadt erlesene Ingredenzien zu erwerben gibt.
Auch ist das kulinarische Angebot eines Landes für sie ein wichtiges Kriterium dafür,
ob sich eine Reise dorthin lohnt oder nicht. Es gibt auch kaum eine größere Freude, die
ich ihr machen kann, als sie in ein gutes Restaurant einzuladen, wo sie das Gericht
fotografisch dokumentiert und dann mit ihren Freundinnen teilt.
Auch diese erstellen häufig Essensfotos, eine Bekannte von uns hat gar auf Facebook eine
eigene Bildergalerie für ihre Leibspeise erstellt (Deserts mit Walnussaroma) und befüllt
diese seit sovielen Jahren, dass mittlerweile ein stattlicher Katalog entstanden ist.
Mir, im Gegensatz dazu, ist diese ganze Essensfotografie vollkommen unverständlich. Ich kann nicht
einsehen, welchen Nutzen mir das Foto eines Gerichtes bringt, das bereits verzehrt wurde und daher
auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist, oder das gerade von einem meiner Freunde in einer anderen
Stadt verzehrt wird – aber eventuell bin ich hier schlicht und ergreifend, was man einen
Banausen nennt.

Ich glaube aber begriffen zu haben, dass dieses Essensthema eine sozial-kommunikative
Funktion einnimmt. Wie allgemein bekannt ist, sind Japaner nicht die großem Kommunikatoren
im Bezug auf ihre eigene Gefühlswelt. Man ist zu schamvoll und distanziert,
empfindet die Enthüllung seines Inneren als peinlich, und entsprechend schwer fällt es,
die eigene Zuneigung für liebgewonnene Menschen auszudrücken.
Hier nun kommt das Essen ins Spiel: es ist als eine Art Brücke zu verstehen, es liefert
ein Gesprächsthema und kann sogar als Medium für Zärtlichkeiten fungieren.
Nicht umsonst wird Nami von ihrer Mutter mit Unmengen an Nahrungsmitteln aus Japan beliefert,
sogar mit solchen, die es auch in Deutschland zu kaufen gibt. Mein teilt ein Stückchen Genuss,
tut sich etwas Gutes – und sagt auf diese Art vieles, was mit Worten nicht ausgedrückt werden kann.

Vor einer Weile las ich die Kurzgeschichte „海の光“, dessen Autor mir entfallen ist. Dort taucht ein
Mann auf, der ein Tomatenfeld bewirtschaftet. Als die Arbeit auf dem Feld beschrieben wird, stolperte
ich über folgenden Ausdruck:
„トマトを指で撫でる“ (トマトをゆびでなでる).

Ich kannte die Bedeutung von „naderu“ und wusste, dass es sowas wie „sanft reiben“ bedeutet, konnte mir
aber in diesem Kontext keinen Reim darauf bilden und fragte Nami, ob „naderu“ vielleicht noch eine
andere Bedeutung haben könne. Nein, versicherte sie mir, ich habe alles korrekt verstanden.
Der Mann in der Geschichte habe die Tomaten zärtlich gestreichelt!

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