Kindesmissbrauch, Serienmorde, Justizfehler… in „boku dake ga inai machi“ kommen die ernsten, die bitterernsten Themen auf den Tisch. Als Zuschauer ist man schon in Habachtstellung, bevor man noch die erste emotionale Bindung zu den Charakteren aufbauen kann, man wittert schon die Gefahr. Entkommen kann man nach den ersten zwei Episoden aber schon nicht mehr: etwas Echtes, Liebenswertes, oft auch Schmerzhaftes schwebt über den Figuren, und in Windeseile fühlt man sich hoffnungslos eingewickelt und empfindlich verwunderbar gegenüber der Macht der Storywriter. Da spielt sich schließlich ein Drama ab, in dieser Stadt, ein furchtbares, und längst ist man selbst ein Teil davon geworden. Sich entziehen, sich distanzieren, vielleicht sogar den Film beenden – all das ist einem ab diesem Punkt bereits so unmöglich wie dem Helden der Geschichte selbst.
Bevor der Mörder zuschlägt…
Der Mangazeichner Satoru leidet an übernatürlichen Deja-Vus. Nicht nur durchlebt er Situationen aufs Neue und kann bereits die nächsten Minuten vorhersagen, es steht ihm auch frei neue Entscheidungen zu treffen und damit bewusst ins Zeitgeschehen einzugreifen. Immer wieder vereitelt er auf diese Weise tragische Unfälle und rettet manches Leben mit jener Fähigkeit, die er so wenig begreift. Eines Tages dann bricht die Katastrophe über ihn herein und erschüttert die Grundfesten nicht nur seines eigenen Lebens. Wie er sich derartig an den Rand des Abgrunds getrieben sieht, passiert es schließlich erneut:
Satoru reist durch die Zeit und versucht, die Wurzel des verhängnisvollen Geschehnisses auszuradieren und damit das Unglück selbst zu verhindern. Dieses fiel nämlich keineswegs einfach so vom Himmel sondern ist vielmehr das Produkt eines kaltblütigen Verbrechers, der schon vor achtzehn Jahren sein Unwesen getrieben hat. Damals nämlich versetzte er Satorus Heimatstadt mit einer Serie an bestialischen Kindermorden in Angst und Schrecken, jene Heimatstadt, in der sich der Protagonist nun wiederfindet im Körper seines Ichs aus der Kindheit. Auch das erste Opfer des künftigen Killers trifft er nun in der Schule, ein einsames, vom elterlichen Missbrauch gezeichnetes Mädchen namens Kayo. Zwischen den beiden entwickelt sich eine enge Freundschaft und kurzerhand beschließt Satoru, dem Mörder einen Strich durch die Rechnung zu machen, Kayo vor ihrem grausigen Schicksal zu bewahren und auf diese Art hoffentlich auch das eigene Desaster zu vereiteln.
Mutiges Drehbuch, bekannte Elemente
Leben retten dank dem Sprung durch die Zeit – zugegebenermaßen nicht die allerneuste Idee. Wer „boku dake ga inai machi“ aber für einen reinen „Steins;Gate“ Abklatsch hält, der tut dem 13-folgigen Drama damit Unrecht. Sowohl Atmosphäre als auch die Wahl der Kernthemen unterscheidet die beiden Serien deutlich voneinander. Jene Themenwahl, sie gleicht dem Spiel mit dem Feuer, dem Trapezakt, der nur allzu leicht misslingen könnte. Anfängliche Sorgen erweisen sich aber schnell als unbegründet: das Autorenteam beweist die nötige Sensibilität, den nötigen Respekt. Ich persönlich war am Ende froh darum, dass an jene Bestialitäten im filmischen Rahmen zu rühren gewagt wurde – schließlich sind sie ja leider ein nicht zu leugnender Bestandteil unserer Welt und begegnen uns zu Genüge in Funk und Fernsehen.
Wird ihrer ganzen Tragik genüge getan? Wird dargestellt, wie entsetzlich so ein Vorfall seine Wunden schlägt in die Seelen der Menschen? Selbstverständlich nicht. Solches zu fordern wäre aber sicherlich auch unfair gegenüber den Machern, vielleicht verlangte man von ihnen damit auch das Umögliche. Sie vereinfachen an allerlei Stellen, lassen sich gelegentlich auch zu Unwahrscheinlichkeiten hinreissen – alles aber in einem sehr verzeihlichen Rahmen. Wirklich hervorsticht „boku dake ga inai machi“ meinem eigenen Empfinden nach vor allem durch die vorsichtige Beleuchtung der „bösen“ Charaktere. Ohne ihre Taten zu entschuldigen oder zu rechtfertigen werden Hintergründe geliefert, die ihre Persönlichkeit erschreckend glaubhaft, erschreckend „echt“ wirken lassen. Hollywood-Stereotypen sucht man hier glücklicherweise vergebens.
Wenn ihr nicht gerade im Stress steckt und Lust habt auf spannende Unterhaltung mit Tiefgang, dann solltet ihr „boku dake ga inai machi“ auf eure Liste schreiben. Unbedingt solltet ihr aber genug Zeit einplanen: Die zahlreichen Cliffhanger werden euch mit Sicherheit viele Stunden am Stück vor den Fernseher fesseln. Wenn es euch so geht wie mir, dann werdet ihr aber auch noch Tage danach über die verzwickte Handlung nachdenken und den starken Eindrücken nachspüren dieses Animes, das erbarmungslos herumstochert in den dunkelsten Teilen der menschlichen Seele.